Der Hirtenbrief zur Fastenzeit von Bischof Charles Morerod wird am Wochenende vom 20./21. Februar in den Gottesdiensten in der Diözese verlesen.
Was heisst eigentlich Christ sein? Diese Frage stelle
ich gerne, und die Antwort scheint einfach. Doch wie
oft muss ich feststellen, dass das, was bekannt zu sein
scheint, es eben nicht ist! Im Französischen kann man
sagen, dass "chrétien" von "Christus" kommt und
bedeutet: "mit Christus sein". Im Deutschen ist die
Antwort nüchterner: man ist "Christ". Man sollte also
bei uns etwas von Christus erkennen können.
Doch wie oft verhüllen wir sein Antlitz! Auch bei uns
stellt man alle möglichen, mehr oder minder schwere
Probleme, einschliesslich Skandale fest: sexueller
Missbrauch, Veruntreuung usw. Und die Aktualität
zeigt die Religion als Gewaltfaktor. So denken viele, es
würde in der Welt besser aussehen, wenn man die
Religionen beseitigen würde (denn in der Geschichte
aller Religionen kommt Gewalt vor). Unter diesen
Bedingungen ist es für uns schwierig geworden, über
Themen der Ethik zu sprechen, denn gleich wird man
dann aufgefordert, zuerst vor der eigenen Tür zu
kehren und die andern in Ruhe zu lassen.
Es ist nicht unberechtigt, dass uns Vorwürfe gemacht
werden, denn schon Jesus hat eindringlich gesagt:
«Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben,
zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er
3
mit einem Mühlstein um den Hals in die Tiefe des
Meeres versenkt würde» (Matthäus 18,6). 1965 hat das
Zweite Vatikanische Konzil eine Verantwortung der
Christen für die Entstehung des Atheismus anerkannt:
«Die Gläubigen können an dieser Entstehung des
Atheismus einen erheblichen Anteil haben, insofern
man sagen muss, dass sie durch Vernachlässigung der
Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung
der Lehre oder auch durch die Mängel ihres
religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das
wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen
als offenbaren» (Konstitution über die Kirche in der
Welt von heute, § 19).
Wenn wir so unsere Verantwortung einsehen,
müssen wir dann schweigen, unseren Glauben
beschämt verstecken? Was erwartet man denn
eigentlich von den Mitgliedern der Kirche? Leute, die
alle vollkommen, schöner, intelligenter usw. als die
andern wären? Ist es das, worauf die Kirche Anspruch
erhebt, wenn sie sich wegen der Heiligkeit Christi
selber "heilig" nennt? Wenn die Kirche diese
Gemeinschaft von Vollkommenen wäre, wer von uns
würde sich da dazugehörig fühlen? Was mich
anbelangt, so würde ich wahrscheinlich diese
4
Vollkommenen bewundern, selbst aber auf Distanz
gehen. Gewiss, Jesus macht uns Vorwürfe, aber er sagt
uns auch, dass gerade weil er unsere Sünde kennt, er
zu uns kommt: «Nicht die Gesunden brauchen den
Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die
Sünder zu rufen, nicht die Gerechten» (Markus 2,17).
Kann man etwas davon erahnen, was es heisst, Christ
zu sein, wenn man uns sieht? Wenn man uns sieht mit
unserem Anteil an Skandalen? Was uns betrifft, so sieht
man, dass wir zu wenig "Christen" sind. Dies ist einer
der Gründe des Skandals: der Abstand zwischen dem,
was wir verkünden und unserem konkreten Leben.
Dieser Abstand wird auch immer bestehen, denn wir
verkünden ja nicht uns selber: wir verkünden Jesus
Christus, den menschgewordenen Gott, der für uns
gestorben und auferstanden ist.
Christ sein bedeutet aber dennoch nicht zuerst, einer
Gruppe anzugehören, die voller Fehler ist. Christ sein
heisst vielmehr, mit Christus vereint zu sein, sein Leben
zu teilen in seinem Leib, der Kirche, die ihre Nahrung in
der Eucharistie und im Hören auf das Evangelium
findet. Es ist ein Irrtum, unseren Glauben mit unseren
Schwächen zu identifizieren: es geht vielmehr darum,
uns mit dem Evangelium zu vergleichen. Dann sieht man sogleich, dass unser Leben die frohe Botschaft zu
wenig wiederspiegelt, aber das Evangelium verliert
dadurch nichts von seinem Wert. Geben wir deshalb
die Hoffnung nicht auf! Fragt man den Papst, wer er
sei, dann antwortet er "ein Sünder". Ist dies eine
trostlose Antwort? Ganz und gar nicht, denn der
christliche Sünder, wie jeder von uns einer ist, verbringt
seine Zeit nicht damit, sich selbst zu betrachten. Er
hebt vielmehr den Blick zu seinem Retter, zu Jesus
empor.
Wollt ihr wissen, was ein Christ ist? Schaut nicht
zuerst uns, die Christen, an. Schaut auf das Kreuz, wo
Gott uns bezeugt, dass er uns nimmt, wie wir sind, uns
bis zum Äussersten liebt, uns durch die verschlungenen
Wege unserer Existenz zum ewigen Leben führt.
Ich hatte zuerst einen anderen Brief geschrieben,
doch dann habe ich auf ihn verzichtet, weil ich nicht tun
kann, als ob ich mir der Tatsachen nicht bewusst wäre,
die das Bild von uns entstellen. Aber ich will trotzdem
meinen Blick nicht nur auf die Fehler richten, als ob das
Leben der Kirche nicht auch einen grossen Teil an
Schönheit hätte. Ja, wirklich, ich sehe, hier und jetzt,
wie viele Christen im Verborgenen beten und im Stillen
und in Schlichtheit so vielen leidenden Menschen helfen, die allein wären, wenn Gläubige ihnen nicht aus
Liebe zu Gott helfen würden. Ist nicht dies das
"Feldlazarett", mit dem der Papst die Berufung der
Kirche gerne vergleicht, wo zuerst die Wunden
verbunden werden?
Die grosse Bewegung des Jahres der Barmherzigkeit
zeigt, wo unsere Hoffnung liegt: in der Vergebung
Gottes. Und welch erstaunliche Bewegung löst dieses
Jahr der Barmherzigkeit aus! Welche Erwartung wird
sichtbar! Bei der Öffnung der Heiligen Pforte in der
Kathedrale, an einem Sonntagabend um 20 Uhr 30,
hätte ich nie erwartet, dass es nicht genügend
Sitzplätze geben würde! Die Vergebung Gottes
erneuert die Welt von Innen heraus: ohne Vergebung
gibt es wahrhaftig keine Hoffnung, nicht einmal unter
uns. Nicht umsonst betont der Papst seine Erwartung,
dass dieses Jahr die Gelegenheit ist, die Erfahrung der
Befreiung zu machen, welche uns das Sakrament der
Versöhnung gibt.
Ja, es ist wahr, Religion kann Anlass zu Gewalt
werden. Wenn es wegen der Christen ist, dann, weil sie
zu wenig "Christen" sind. Das Evangelium ruft nicht zur
Gewalt auf! Was wäre aber die Welt, wenn man ihr die
Religion wegnehmen würde? Wäre die Welt ohne Religion wirklich eine friedvolle und glückliche Welt?
Man entdeckt immer wieder, was die Religion der Welt
bringen kann, dort wo man die Fragen getrennt anging.
So wendet der Papst einen Gedanken auf die
Bewahrung der Schöpfung an, der bis dahin eher den
zwischenmenschlichen Beziehungen galt, nämlich die
grosse Rolle der religiösen Motivationen, ohne die die
Menschen immer versucht sind, zuerst für ihr eigenes
Wohl zu sorgen und zynisch zu werden. Das wachsende
Wissen auf dem Gebiet der Ökologie und in sozialen
Belangen kann helfen, die Probleme zu erkennen. Es
genügt aber nicht, um sie zu lösen. Und hier zeigt der
Papst den Beitrag der Religion: «Jede technische
Lösung, die die Wissenschaften beisteuern wollen, um
die schweren Probleme der Welt zu lösen, wird
machtlos sein, wenn die Menschheit von ihrem Kurs
abkommt, und wenn die grossen Motivationen in
Vergessenheit geraten, die das Zusammenleben, das
Opfer und die Güte möglich machen» (Enzyklika
Laudato Sì, § 200). Wer Christ ist, also ein mit Christus
vereinter Mensch, den erfüllt ein tiefer Beweggrund in
allem seinem Tun und Lassen: «Wenn Gott uns so
geliebt hat, müssen auch wir einander lieben»
(1. Johannes 4,11).
Ich will in der ersten Person der Einzahl aufhören, denn
ich stelle mir vor, dass auch andere sich in diesem
Schluss erkennen werden. Wollt ihr wissen, was ein
Christ ist? Schaut auf Christus! Schaut nicht auf mich,
ich bin es nicht wert, ER aber ja! In ihm ist unsere
Hoffnung, und ich gebe mich hin, um sie euch bekannt
zu machen. Ich verkünde das Evangelium als Hoffnung
für arme Schlucker wie mich: ich verkünde es, weil es
die grösste Friedensquelle, die grösste Freudenquelle
ist. Gott wusste, was er tat, als er Mensch wurde. Und
er ist nicht umsonst gestorben.
+ Charles Morerod, Februar 2016